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Silke Lesemann: Der lange Kampf für Kinder und Beruf

Silke Lesemann steht in ihrem Garten in Bolzum bei Hannover, in den Händen eine große Schüssel Salat. Silke Lesemann ist Landtagsabgeordnete der SPD für Laatzen, Pattensen und Sehnde. Nur wenige Meter entfernt wendet ihr Mann die Würstchen auf dem Grill. Ihre Eltern sind da und ihre Tante ebenfalls. Silke Lesemann lächelt glücklich. Auch ihre beiden Söhne sind zum Familienfest gekommen. Ihre Söhne, die sie, wenn es nach anderen gegangen wäre, nicht hätte großziehen dürfen – die beiden Jungs, die für ihren Weg in die Politik entscheidend waren.

Eine ermutigende Jugend

Silke Lesemann wächst in den 1960ern nicht weit von ihrem heutigen Zuhause auf. Mitten in einer typischen Siedlung der Zeit. Es wuselt vor Kindern, man hält nachbarschaftlich zusammen und hilft einander aus. Es ist eine Zeit des Zusammenhalts in der Familie und in der Nachbarschaft. Eine Erfahrung, die Lesemann bis heute prägt.

Anders als für viele andere Frauen jener Jahre ist für ihre Familie immer klar, dass Frauen eine gute Ausbildung brauchen, aufs Gymnasium gehen sollen und Karriere machen. Besonders stark wird das Bild der Frau als Teil der Arbeitswelt von ihrer Groß- und Urgroßmutter geprägt. Beide Frauen hatten ihre Männer früh verloren und mussten danach die Familie versorgen. „Auch Frauen müssen eine Familie versorgen können.“ – so viel steht für ihr engstes Umfeld immer fest.

Früher Erfolg

Silke Lesemann möchte Historikerin werden. Sie studiert fleißig, schnell und mit Erfolg. Ihre Vorbilder sind Frauen, die es bereits im Wissenschaftsbetrieb geschafft haben. Diese Frauen sind damals noch selten, aber Lesemann möchte zu ihnen gehören. Sie beendet schließlich ihr Studium mit der Note Eins.

Mit dem Abschluss des Studiums soll für Lesemann an der Uni noch lange nicht Schluss sein. Sie beginnt, ihren Doktortitel zu machen. Immer wieder erhält sie die Rückmeldung, sie sei eine tolle Wissenschaftlerin. Ihr steht als Frau eine Karriere an der Uni bevor. „Dann habe ich gemacht, was man in der Wissenschaft nicht machen darf: Ich wurde schwanger.“.

Karriereende: Kinderwunsch

Kinder ist das eine Thema, über das alle Wissenschaftlerinnen schweigen. Denn eines haben im Grunde fast alle Wissenschaftlerinnen an den deutschen Universitäten damals gemeinsam: Sie haben allesamt keine Kinder. Sie setzen auf Karriere statt Familie. Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist damals an den Universitäten noch undenkbar.

„Ich war 30 Jahre alt und hatte den großen Wunsch, Kinder zu haben. Ich wusste, dass das für eine Wissenschaftlerin ungewöhnlich ist, aber ich dachte auch, dass es nach der Schwangerschaft und einer kurzen Pause für mich weitergehen würde.“

Das Gegenteil war der Fall.

Lesemann bewirbt sich nach der Schwangerschaft bei einer Professorin auf eine wissenschaftliche Assistenzstelle und bekommt eine Absage. Die Begründung: abgelehnt wegen Kind. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Zuerst war ich nur sauer auf diese Professorin. Nach weiteren Ablehnungen mit immer ähnlichen Begründungen habe ich verstanden, dass es chancenlos ist, als Frau eigene Kinder und Wissenschaft zu vereinen.“

Arbeitslos

Es vergeht ein Monat nach dem anderen, in dem Lesemann niemanden findet, der sie als hochqualifizierte Fachkraft beschäftigen will. Mit Kind ist da nichts zu machen. „Ich habe mich so zurückgesetzt gefühlt. Ich habe auf meine männlichen Kollegen geschaut, deren Frauen auch Kinder hatten, und da wurde mir der Unterschied klar. Es wird mit zweierlei Maß gemessen.“

Lesemann trauert um ihren Beruf. Sie liebt ihr Kind, aber sie erinnert sich auch, dass sie ihren Beruf mit Leidenschaft gemacht hat. Doch lösen kann ihr Problem damals niemand.

Der Weg zurück

Resignation ist nicht ihre Sache. Es muss Wege geben, Kind und Beruf zu vereinbaren. Gemeinsam mit ehemaligen Kollegen wird sie zur Herausgeberin einer wissenschaftlichen Zeitschrift. „Das ging von Zuhause aus. Hat ja keiner beim Lesen gemerkt, dass ich ein Kind habe.“ Über diese Zeitschrift sorgt sie dafür, dass sie und ihre Arbeit nicht in Vergessenheit geraten. Mit ihrer Familie organisiert sie die Betreuung der Kinder, wenn sie auf wissenschaftliche Kongresse fährt, um den Anschluss nicht zu verlieren und neue Kontakte aufzubauen.

„Weil ich nicht wollte, dass unsere Familie das ganz alleine lösen muss, bin ich damals zur SPD gegangen und habe dafür gekämpft, dass wir uns für die Gründung einer Kinderkrippe einsetzen. Das war damals für die Männer in der SPD noch nicht selbstverständlich.“

Lesemann setzt sich durch. Die Kinderkrippe gibt es heute noch.

„Irgendwann hatte ich es dann geschafft. Ich hatte eine Professorin gefunden, die mich gemeinsam mit meinem Doktorvater unterstützte, so dass ich flexibler arbeiten konnte. Das war damals noch alles neu.“ Lesemann unterrichtet endlich wieder an der Uni und kann forschen. Aber eines ändert sich nicht: Junge Nachwuchswissenschaftlerinnen an den Hochschulen haben noch immer keine Kinder.

In die Politik für alle Frauen

Für Lesemann ist diese Beobachtung schließlich der Grund, die Seiten zu wechseln. „Ich wollte nicht, dass Frauen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie allein kämpfen müssen. Ich wollte, dass es selbstverständlich wird, dass Kinder und Karriere zusammen gehen.“ Lesemann bewirbt sich auf eine Stelle im Gleichstellungsbüro der Technischen Universität Braunschweig und wird genommen. Dort arbeitet sie aktiv daran, dass Frauen in der Wissenschaft die gleichen Chancen wie ihre männlichen Kollegen bekommen. Sie will die dortige Hochschule familiengerechter machen. Sie sucht Räume für ein Eltern-Kind-Zimmer und hilft beim Aufbau der Kinderbetreuung. 

Nach einigen Jahren entschließt sie sich dazu, eine Schippe draufzulegen. Nach den Erfolgen in Braunschweig will sie dafür sorgen, dass Frauen im ganzen Land mehr Chancen haben. Sie kandidiert für den Landtag und arbeitet als wissenschaftspolitische Sprecherin seither dort aktiv weiter an der Stärkung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie setzte sich ein für die Abschaffung der Studiengebühren, sorgte mit für die Stärkung der Rechte der Gleichstellungsbeauftragten und brachte neue Rechte für die Freistellung von Studierenden mit Kindern voran.

Aber Lesemann geht es nicht nur um die Unis, sondern um jede Frau, die Familie und Beruf vereinbaren will.

„Wir haben im ganzen Land die Kitas massiv ausgebaut und jetzt sogar für bessere Betreuung eine dritte Kraft in jeder Krippe. Ich bin da verdammt stolz drauf. Es ist nicht selbstverständlich.“

Für die kommenden fünf Jahre im Landtag tritt Lesemann wieder an. Sie will die Gebühren für Kinderbetreuung abschaffen, und ich glaube es ihr. Selten habe ich jemanden in der Politik getroffen, dem ich mehr geglaubt habe, dass Kinderbetreuung nicht nur irgendein Thema unter vielen ist.

In Bolzum steht eine Frau. Sie hält eine große Schüssel Salat, blickt glücklich auf ihre beiden Söhne und sagt lächelnd: „Aus den beiden ist was geworden und aus mir auch. Und darauf bin ich sehr stolz.“

Zur Person

Silke Lesemann


In den letzten Wochen und Monaten haben wir unseren Mitarbeiter Norman auf eine Reise geschickt. Eine Reise quer durch Niedersachsen, um unsere Landtagsabgeordneten und unsere Kandidatinnen und Kandidaten für den Landtag zu treffen und kennenzulernen. Sechzehn Persönlichkeiten, mit außergewöhnlichen und unterschiedlichsten Lebensläufen, die die SPD im Landtag vertreten oder nach dem 15. Oktober vertreten wollen, hat Norman getroffen. Und er hat Portraits über sie geschrieben. Zu jedem Portrait hat Willi außerdem einen persönlichen Kommentar geschrieben.

„Ich unterstütze Silke Lesemann, weil ihr großer Erfahrungsschatz ein wichtiger Kompass ist, in der Politik die richtigen Entscheidungen für ein soziales und gerechtes Miteinander zu treffen.“

Willi Lemke

Weitere Portraits findest du hier

KandidatInnenportraits