Offener Brief zur Flüchtlingspolitik, Konsequenz aus den Anschlägen

Tjark Bartels, Landrat des Landkreises Hameln-Pyrmont, hat an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil einen offenen Brief zur Flüchtlingspolitik und der Konsequenz aus den Anschlägen im Landkreis Hameln-Pyrmont geschrieben, den wir hier im Wortlauf veröffentlichen.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil,

in unserem Landkreis ist in der letzten Woche ein feiger Anschlag auf das Leben von Menschen verübt worden. Die Täter haben aus Hass gegenüber fremden Menschen gehandelt.

Wir sind ein Landkreis, der sich der Aufgabe der Zuwanderung gerne stellt und eine große Chance in der Zuwanderung sieht. Eine überdurchschnittliche große Zahl hilfsbereiter Bürger macht das Ankommen leichter, unsere Bürgermeister stehen geschlossen für eine Willkommenskultur.

Schon am Tage des Anschlags haben über 2000 Menschen friedlich für gute Nachbarschaft demonstriert, eine enorme Welle der Hilfsbereitschaft setzte ein.

Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Ministerpräsident, für ihr persönliches Erscheinen am Ort des Geschehens.

Bund und Land bitte ich nicht nur um die Klärung der Finanzströme sondern auch darum, gemeinsam Mut zu machen für eine richtige Sache. Aus diesem Grund erkläre ich für den Landkreis Hameln-Pyrmont:

1.) Wir leben gute Nachbarschaft und öffnen unsere Arme

Im ganzen Land gibt es einige Menschen, die fremden- und menschenfeindlich denken und sogar schwerste Straftaten aus dieser Überzeugung verüben. Diese Menschen leben unter uns, es ist aber nicht die Mehrheit, es sind sogar so wenig, dass ihre Parteien bei Auszählungen noch nicht einmal namentlich erwähnt werden. Das gilt fast überall im Land.

Wir lassen es nicht zu, dass durch die Verübung einer solchen unvorstellbaren Tat die aufrechten und hilfsbereiten Menschen in unserem Landkreis verunglimpft werden.

Wir sind ein Landkreis der offenen Herzen, wir strecken unsere Hände entgegen und leben in guter Nachbarschaft.

Unsere Antwort auf diesen Anschlag lautet: Mehr Menschlichkeit, Mehr Hilfe, Mehr Zuwanderung.

2.) Die Anzahl der Flüchtlinge überfordert uns nicht

Die vereinzelt geschwenkten weißen Fahnen aus Rat- und Kreishäusern sind ein falsches Signal. Natürlich ist es eine Herausforderung, viele Menschen anständig unterzubringen. Aber selbst die meisten dichtbesiedelten Großstädte mit wenig verfügbarem Wohnraum finden Wege. Und das wird uns auch noch eine lange Zeit gelingen.

Der Auftrag in den Verwaltungen heißt: Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Vielleicht muss man intern Stellen anders priorisieren, vielleicht den Zuschnitt des Hauses anpassen oder Kreativität entwickeln, welche Liegenschaften geeignet sein könnten. Fast alle Städte und Landkreise packen an und finden diese Wege. Wer anderes behauptet, versteht seinen Job nicht – gewählt sind wir alle nicht für die Verwaltung eines stehenden Gewässers. Manchmal gibt es Bewegung.

3.) Die Kosten der Unterbringung verhandeln wir intern

Selbstverständlich müssen die Kosten der Unterbringung auf Dauer durch die Gemeinschaft getragen werden. Die interne Finanzverteilung und die Frage, wer welche Anteile trägt, tau-gen aber nur sehr bedingt für die öffentliche Debatte. Von welcher staatlichen Ebene die Kosten getragen werden, ist eine Frage der Verteilung. Am Ende werden die Kommunen wie auch das gesamte System von der Zuwanderung profitieren. Ein kleinerer Teil der Gesamtkosten wird dabei auch in den Kommunen zu tragen sein.

4.) Die Menschen wandern in unser Sozialsystem ein – ja, zum Glück. Sie retten uns.

Unter allen Einwohnerinnen und Einwohnern gibt es Menschen, die in die Sozialsysteme einzahlen, weil sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Andere (Kinder, Studierende, Arbeitslose, sonstige Leistungsempfänger und Menschen nach dem Erwerbsleben) erhalten Leistungen. Bezogen auf Menschen mit Migrationshintergrund fällt die Bilanz positiv aus, es wird mehr in das Sozialsystem eingezahlt als entnommen. Menschen mit Zuwanderungshintergrund haben einen erheblichen Anteil daran, dass wir Kindergeld, Wohngeld und Renten zahlen können.

5.) Das Gespenst des demographischen Wandels

Seit 20 Jahren wird mit zunehmender Depression in jedem Ort dieser Republik außerhalb der Großstadtregionen über den demographischen Wandel gesprochen. Zu wenig Menschen, vor allem zu wenig junge Menschen, gefährden die Zukunft.

Deutschland ist ein Zuwanderungsland und ist es immer gewesen. Und das ist ein Glück, denn ohne die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte wären wir heute ein sieches Land. Über Schul-schließungen auf dem Land müssten wir heute nicht mehr diskutieren, sie wären schon lange zu. Viele Firmen hätten aufgrund des Mangels an Facharbeitern ihre Tore geschlossen oder weit mehr ins Ausland verlagert, die Sozialsysteme wären kollabiert. Ob wir dann auch mit strotzender Stabilität durch die Krisen der vergangenen Jahre gekommen wären? Wohl kaum.

Nun kommen Menschen, von denen viele sich nichts mehr hoffen, als das in Ihrer Heimat Frieden einkehrt und sie wieder zurückkehren können.

Aber etlichen können wir eine Bleibeperspektive eröffnen. In unserem Landkreis bemühen wir uns darum, Menschen nach Abschluss ihres Asylverfahrens das Ankommen und die Niederlassung zu erleichtern.

In Hameln-Pyrmont haben wir Platz genug. Auf dem Land Schulen ohne Schüler, Ärztemangel und hochpotente Firmen, denen die Mitarbeiter fehlen. Und dabei sind wir noch im Mittelfeld der Betroffenheit durch die Demographie- an anderen Orten ist der Handlungsdruck noch viel höher.

Jeder Einzelne, der bei uns dauerhaft bleibt, macht uns stark.

6.) Sofortige Abschaffung des Dublin-Verfahrens

Das Dublin Verfahren geht von der Idee aus, dass Menschen im Erstankunftsland einen Asylantrag stellen. Reisen sie dann weiter, müssen sie in dieses Land zurückgeschickt werden. Leider funktioniert das Verfahren in keinster Weise. Von 35.000 durch die Bundesrepublik gestellten

Aufnahme-/Wiederaufnahmeersuchen an andere Mitgliedstaaten im Jahre 2014 wurden ca. 80 % genehmigt; tatsächlich „zurückgeführt“ wurden von diesem Personenkreis nicht einmal 20 %.

Dies liegt daran, dass Menschen nicht einfach verschiebbar sind. Sie wollen nicht wieder von vorne anfangen müssen, wenn sie zarte Bande des Ankommens geknüpft haben, in einer Gemeinschaft angekommen sind und die Kinder beginnen, die Sprache mit nach Hause zu bringen.

Warum diese Menschen nicht in den Erstankunftsländern bleiben, erklärt sich leicht. Viele dieser Länder bieten kaum eine Perspektive. In anderen Fällen reisen Menschen dorthin, wo sie Verwandte haben oder andere Anknüpfungspunkte.

Dass viele der Erstankunftsländer weit weg von Standards sind wie wir sie voraussetzen, gehört auch zur Wahrheit. Offiziell ausgesetzt ist das Dublin Verfahren nur für die Rückführung nach Griechenland. Dabei sind weder Ungarn – dessen Regierung einen klar ausländerfeindlichen und nationalistischen Kurs vorgibt – noch viele andere Länder in der Lage, ihrer Aufgabe nach-zukommen und faktisch verzichten die Ausländerbehörden weitgehend auf Rückführungen nach Italien, Serbien und Ungarn.

Aber auch ein ständiges Hin- und Herschicken zwischen Deutschland, Schweden oder Belgien entwurzelt Menschen.

Konsequent wäre es nun, das Scheitern einzugestehen und dem Gespenst des Dublin-Verfahrens ein Ende zu bereiten.

Hinzu kommt, dass das System Menschen von der Integration und vom Arbeitsmarkt fernhält. Denn in den ersten Monaten des Aufenthaltes gilt die Vorrangprüfung, eine echte Beschäftigung ist erst nach 15 Monaten möglich.

Das Dublin Verfahren ist ein Bürokratiemonster ohne Effekt und bindet im BAMF, in den Ländern und den Kommunen unendliche Ressourcen. Der Effekt: Statt Fälle schnell abzuarbeiten, dauern selbst glasklare Entscheidungen noch länger als ohnehin schon, weil der Erstasylantrag im Drittland Deutschland unzuständig macht.

7.) Schnelle Schaffung eines Zuwanderungsgesetzes

Auch über die Asylverfahren hinaus brauchen wir klare Regeln für eine Zuwanderung nach Deutschland – auch aus dem Balkan. Denn auch wenn man die nahezu vollständige Ablehnung von Asylantragen aus den Balkanstaaten angesichts der katastrophalen Zustände für Sinti und Roma kritisch betrachten muss, liegt bei den meisten Menschen kein Asylgrund vor.

Wir müssen als europäische Staatengemeinschaft für eine schnelle Stabilisierung bei unseren direkten Nachbarn sorgen und gleichzeitig ein Verfahren eröffnen, mit denen auch Menschen von dort in einem geregelten Verfahren zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kommen können.

8.) Nachbarn sein

Den Skeptikern und denjenigen, die lediglich in sehr kurzer ökonomischer Abwägung die Frage der Zuwanderung betrachten sei angeraten, die neuen Nachbarn kennenzulernen.

Fragen Sie einfach nach den Geschichten, nach dem, was diese Menschen erlebt haben. Mehr Nähe sorgt für mehr Verständnis und lässt schnell Gewahr werden, dass wir aus der Komfortzone heraus agieren. Das, was wir als Problem darstellen, ist oft nicht mehr als eine Lappalie.

Selbst wenn wir eine Turnhalle kurzzeitig für die Unterbringung nutzen müssen: Was ist ein ausgefallener Sportvereinskurs gegen existenzielle Not?

Für uns alle sollten die zig tausend ehrenamtlichen Helfer ein Vorbild sein. Nicht zaudern. Hin-gehen, Herz zeigen, Anpacken und helfen.

Mit freundlichen Grüßen

Tjark Bartels
Landrat